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Nicht jeder Zahnschmerz kommt vom Zahn

Ein ziehender Schmerz im Oberkiefer, pochend, immer wieder auftretend – der Griff zum Telefon, die Zahnarztpraxis ist schnell gewählt. Dort angekommen zeigt sich: Kein Loch, keine Entzündung, keine offensichtliche Ursache. Doch woher dann kommt der Schmerz?

Über ausstrahlende Beschwerden, Kiefergelenkprobleme und die Kunst der richtigen Diagnose

Zahnschmerzen gelten als klassische Warnsignale des Körpers – unangenehm, oft eindeutig zu verorten, meist mit einem konkreten Auslöser wie Karies, einer entzündeten Wurzel oder freiliegenden Zahnhälsen verbunden. Doch in der täglichen Praxis erleben wir immer wieder Fälle, in denen der Schmerz im Mund beginnt – aber seinen Ursprung ganz woanders hat.

Der Mund ist ein Teil des Gesamtsystems – und reagiert entsprechend

Zähne, Kiefer, Muskulatur, Nerven – all das ist über feine sensorische Strukturen miteinander verbunden. Vor allem der sogenannte Trigeminusnerv, der große Gesichtsnerv, spielt hier eine Schlüsselrolle. Er verzweigt sich in mehrere Äste, die unter anderem Zähne, Wangen, Stirn und Schläfen versorgen. Wenn also irgendwo entlang dieser Nervenbahnen ein Reiz entsteht – etwa durch Muskelverspannung, Gelenkfehlstellung oder gar eine Entzündung der Nasennebenhöhlen – kann sich der Schmerz in den Zähnen äußern, obwohl dort gar nichts „kaputt“ ist.

Ein klassisches Beispiel sind sogenannte myofasziale Schmerzen: Verspannte Kaumuskulatur – etwa durch nächtliches Zähnepressen, ungünstige Kieferstellung oder chronischen Stress – kann Schmerzen verursachen, die sich wie Zahnschmerz anfühlen, aber tatsächlich aus der Muskulatur stammen. Auch das Kiefergelenk selbst kann Probleme machen: Bei einer craniomandibulären Dysfunktion (CMD) kommt es zu Fehlbelastungen, die Schmerzen im Kiefer, aber auch in Nacken, Rücken oder sogar den Ohren verursachen können.

Wenn Zähne für andere Organe einspringen – das Phänomen der Projektion

Der menschliche Körper unterscheidet nicht immer präzise zwischen Schmerzursprung und Schmerzempfinden. Ein klassisches Beispiel aus der Allgemeinmedizin ist der Herzinfarkt, dessen Schmerz sich häufig in die linke Schulter oder den Arm projiziert. Ähnlich verhält es sich mit dem Zahnbereich. Nebenhöhlenentzündungen, bestimmte Migräneformen, eine Trigeminusneuralgie oder sogar orthopädische Probleme im Bereich der Halswirbelsäule können Zahnschmerzen vortäuschen – nicht selten wird daher zunächst ein Zahnarzt konsultiert, bevor die eigentliche Ursache erkannt wird.

Differenzialdiagnostik: Warum die Ursachenforschung manchmal Zeit braucht

In solchen Fällen ist Erfahrung gefragt. Eine fundierte zahnärztliche Diagnostik umfasst nicht nur die Untersuchung der Zähne selbst, sondern auch der umgebenden Strukturen: Kaumuskulatur, Gelenke, Schleimhäute, die allgemeine Körperhaltung, der Biss. Manchmal braucht es auch interdisziplinäre Zusammenarbeit – etwa mit HNO-Ärzten, Orthopäden oder Neurologen.

Für Patientinnen und Patienten ist es wichtig zu wissen: Wenn sich bei Zahnschmerzen nicht sofort eine klare Ursache finden lässt, ist das kein Zeichen von Unsicherheit, sondern oft der erste Schritt zu einer differenzierten, verantwortungsvollen Diagnostik.

Was Sie selbst beobachten können

Wenn Sie Schmerzen im Kiefer-, Gesichts- oder Zahnbereich wahrnehmen, lohnt es sich, genau hinzusehen – oder besser: hinzuspüren.

  • Treten die Schmerzen vor allem morgens auf? Dann könnte nächtliches Zähnepressen (Bruxismus) eine Rolle spielen.
  • Fühlen sich mehrere Zähne betroffen an – wechselnd oder unscharf lokalisiert? Ein Hinweis auf muskuläre oder nervliche Ursachen.
  • Haben Sie gleichzeitig Kopf-, Nacken- oder Rückenschmerzen? Dies kann auf funktionelle Zusammenhänge hindeuten.
  • Gab es in letzter Zeit körperliche oder psychische Belastungen? Stress schlägt sich oft im Kausystem nieder – unbewusst, aber spürbar.

Zahnschmerzen sind ein Warnsignal – aber nicht immer ein eindeutiges. Der menschliche Körper ist ein vernetztes System, und gerade im Kopf- und Gesichtsbereich greifen viele Strukturen ineinander. Für die moderne Zahnmedizin bedeutet das: Eine gute Diagnostik endet nicht am Zahn. Sie beginnt dort – und bezieht das Ganze mit ein.

Wer Beschwerden frühzeitig ernst nimmt und sich auch auf Ursachen „jenseits des Zahns“ einlässt, kann nicht nur Schmerzen gezielt behandeln – sondern vermeidet auch überflüssige Eingriffe.

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